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Sandra Hoffmann über "Jetzt bist du da"

Autorin im Gespräch

Sandra Hoffmann über "Jetzt bist du da"

Stand: 03.08.2023, 17:04 Uhr

Ein Leben allein im Wald – dieses bekannte Motiv verdichtet Sandra Hoffmann in ihrem neuen Roman zu einer hochreflektierten Geschichte weiblicher Selbstermächtigung.

Sandra Hoffmann über "Jetzt bist du da"

WDR 5 Bücher - Autoren im Gespräch 05.08.2023 11:10 Min. Verfügbar bis 03.08.2024 WDR 5


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Claire hat sich in einem Leben eingerichtet, das zu ihr passt: Mit ihrer Hündin lebt sie in einem Holzhaus im Wald und bewirtschaftet ihren Garten. Sie hat Pädagogik studiert und einen Weg gefunden, ihre Expertisen beruflich zusammenzufassen: Mit einem Kollegen leitet sie Wildniscamps für Kinder und Jugendliche. Diese können hier den Wald mit allen Sinnen erleben. Bei einem solchen Camp fällt ihr der 16-jährige Janis von Anfang an auf: Der zarte Junge mit dem Lockenkopf ist anders als seine großspurigen Klassenkameraden. Zwischen ihm und Claire entwickelt sich eine unausgesprochene Nähe. Doch dann ist das Camp vorbei und Claire versucht, das Ganze zu vergessen. Janis gelingt das nicht – und so steht er einige Wochen später bei Claire vor der Tür.

Nun beginnt eine Annäherung in Zeitlupe, die einen Nachmittag und eine Nacht dauert. Sandra Hoffmann erzählt zuerst aus Claires Perspektive. Wie sie sich zunächst belagert fühlt und nichts von Janis wissen will – und doch immer wieder Momente der Nähe zulässt. Dieses zarte Umkreisen ist sprachlich äußerst feinfühlig dargestellt und lässt viel Raum für Claires Gedankenwelt: Ihre Erinnerungen, ihre intensive Wahrnehmung der Natur, ihre Zweifel. Später erhalten wir aber auch Einblick in Janis' Psyche: Wie eingenommen er von Claires Weiblichkeit ist und nicht versteht, warum sie so distanziert bleibt.

Das einfache Leben im Wald – der Urvater dieses Motivs ist Henry David Thoreau, der 1845 in eine selbstgebaute Hütte zog und dort zwei Jahre lebte. Später verfasste er über diese Zeit sein revolutionäres Werk Walden, benannt nach dem See, an dem er lebte. Auch bei ihm geht es um Selbstermächtigung gegenüber einer repressiven Gesellschaft und um eine tiefe Verbundenheit zur Natur. Sandra Hoffmann ist sich dieser Traditionslinie erkennbar bewusst und baut sogar eine freundliche Anspielung ein: Claire ist ebenso wie Thoreau am 4. Juli, dem amerikanischen Unabhängigkeitstag, in ihr Haus eingezogen.

Jetzt bist du da erforscht aber weniger das Verhältnis von Individuum und Gesellschaft, sondern blickt auf die Verantwortung, die Menschen füreinander haben. Hier stellt eine erwachsene Frau fest, dass sie einen Jugendlichen begehrt. Und muss einen Umgang damit finden. Der Roman gibt klugerweise keine einfachen Antworten auf die moralischen Fragen, die er aufwirft. Vielmehr tastet man sich gemeinsam mit Claire durch unwegsames seelisches und landschaftliches Terrain und muss am Ende eine eigene Bewertung finden. Die sensiblen Naturschilderungen, die klar an der Tradition des nature writing geschult sind, fügen sich organisch in die Geschichte und machen den Roman zu einer stimmigen Auslotung einer Grenzerfahrung.

Eine Rezension von Lina Brünig

Literaturangaben:
Sandra Hoffmann: Jetzt bist du da
Piper, 240 Seiten, 24 Euro